Sozialistengesetz 1878-1890

Das sogenannte Sozialistengesetz entstand 1878 auf Betreiben Otto von Bismarcks.

Durch das Gesetz wurden die Aktivitäten sozialdemokratischer und sozialistischer Vereine deutlich eingeschränkt.

Was war das Sozialistengesetz?

Der Begriff Sozialistengesetz steht als Kurzbezeichnung für „Gesetz für die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“.

Das Gesetz trat am 22. Oktober 1878 in Kraft und wurde bis 1890 mehrere Male verlängert.

Da es sich um verschiedene Einzelbestimmungen handelte, die sich aus 30 Paragraphen zusammensetzten, ist auch von Sozialistengesetzen die Rede.

Die treibende Kraft hinter der Einführung des Sozialistengesetzes war Reichskanzler Otto von Bismarck.

Bismarck betrachtete die aufstrebende Arbeiterbewegung als Gefahr für die herrschende Monarchie.

Mit dem Sozialistengesetz sollte die Arbeiterbewegung zurückgedrängt werden.

Vorgeschichte des Sozialistengesetzes

Durch die voranschreitende industrielle Revolution hatte sich die soziale Situation der Arbeiter erheblich verschlechtert.

So mussten viele Menschen aufgrund von niedrigen Löhnen bei langen Arbeitszeiten sowie von Heimarbeit am Rande der Existenz leben.

Dagegen regte sich jedoch Widerstand. So bildeten die Arbeiter Vereine und politische Parteien, um gegen dieses Missverhältnis vorzugehen.

Schließlich entstand 1875 aus kleineren Zusammenschlüssen die Sozialistische Arbeiterpartei.

Deren Ziel war es, die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern und eine demokratischere Regierung einzuführen.

Bismarck und die Angst vor einer Revolution

Otto von Bismarck entging das Aufstreben der Arbeiterbewegung nicht, und er reagierte mit Ablehnung.

So sah er durch die Bewegung die Gefahr einer Revolution, die die Monarchie gefährden könnte.

Bereits seit einer Reichtagsrede des Sozialisten August Bebel (1840-1913) im Mai 1871, die zugunsten der Pariser Kommune ausfiel, stufte der Reichskanzler die Sozialdemokraten als Bedrohung für Deutschland ein und beschloss, Verbots- und Strafgesetze auszuarbeiten, um der Agitation, die er für staatsgefährdend hielt, entgegenzuwirken.

Bismarck war bewusst, dass die sozialen Auswirkungen der Gründerkrise das Risiko einer Revolution noch verstärkten.

Wirtschaftskrise und Zulauf für die Sozialdemokratie

1873 wurde das sogenannte Gründerfieber, das nach der Reichsgründung eingesetzt hatte, deutlich abgekühlt.

Aufgrund der einsetzenden Wirtschaftskrise sowie dem zunehmenden Elend großer Bevölkerungsschichten erhielt die Sozialdemokratie in Deutschland immer mehr Zuspruch.

Allein in Berlin lebten rund 600.000 Menschen in Ein- oder maximal Zwei-Raum-Strukturen, die sich beheizen ließen. Dabei wurde ein Raum von durchschnittlich sieben Personen bewohnt.

Weitere 100.000 Berliner mussten in Kellerwohnungen leben, was häufig zu Tuberkulose führte.

War ein Mieter nicht mehr in der Lage, seine Miete zu bezahlen, vertrieb man ihn ohne Rücksicht aus der Wohnung.

Infolgedessen kam es zu Massenobdachlosigkeit, und es bildeten sich am Stadtrand zahlreiche Barackensiedlungen.

Bemerkbar machte sich der Zulauf für die Sozialdemokratie bei den Reichtagswahlen 1874 und 1877. Dabei konnte die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) zahlreiche Sitze erringen.

Bismarck sah darin eine Bedrohung durch die Sozialdemokraten, die er als „Reichsfeinde“ betrachtete. Daher suchte er nach einem Anlass, um gegen sie vorgehen zu können.

Attentate auf Kaiser Wilhelm I.

Im Frühjahr 1878 wurden auf Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) zwei Attentate verübt. Diese schlugen jedoch fehl.

Beim zweiten Attentat erlitt der Kaiser allerdings schwere Verletzungen an Kopf und Armen.

Einer der Attentäter, Max Hödel (1857-1878), war vor dem Anschlag aus der SAP ausgeschlossen worden.

Der zweite Attentäter, Karl Eduard Nobiling (1848-1878), soll unter Wahnvorstellungen gelitten haben.

Nun sah Otto von Bismarck endlich die Stunde gekommen, um die Sozialisten in die Schranken zu weisen.

So stellte er die Behauptung auf, dass die Mordversuche mit Umsturzplänen der Sozialdemokraten zusammenhingen, wodurch er endlich zur Tat schreiten konnte.

Beweise für ein Zusammenwirken zwischen Attentätern und Sozialdemokraten gab es jedoch nicht.

Im Rahmen der öffentlichen Hysterie um die Attentate auf den Kaiser ließ Bismarck den Reichstag auflösen und begann seinen Feldzug gegen die Sozialdemokratie.

Einführung des Sozialistengesetzes

Nicht nur Bismarck sah das Aufstreben der Sozialdemokratie mit Sorge, sondern auch viele andere Abgeordnete des neu gewählten Reichstages.

So gelang es dem Eisernen Kanzler, am 19. Oktober 1878 mit der Stimmenmehrheit von Konservativen und Nationalliberalen mit 221 zu 149 Stimmen das Sozialistengesetz zu verabschieden.

Es war den Sozialisten nun nicht mehr gestattet, sich zu versammeln.

Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 21. Oktober zu, und einen Tag später wurde es von Wilhelm I. unterzeichnet, wodurch es in Kraft treten konnte.

Bis 1890 erfolgten vier Verlängerungen.

Folgen des Sozialistengesetzes

Das Sozialistengesetz war zunächst auf zweieinhalb Jahre befristet.

Es sah vor, dass sämtliche Druckschriften, Unterverbände sowie Versammlungen der Sozialistischen Arbeiterpartei verboten wurden.

Gleiches galt für nahestehende Organisationen wie die Gewerkschaften.

Wer gegen das Gesetz verstieß, musste mit Geldbußen oder Gefängnisstrafen rechnen.

Durch den Druck des Sozialistengesetzes sahen sich zahlreiche Vertreter der Sozialisten gezwungen ins Ausland zu gehen, besonders nach Frankreich, England und in die Schweiz.

Trotz des Sozialistengesetzes waren jedoch auch weiterhin einzelne Personen durchaus in der Lage, sich für Wahlen aufstellen zu lassen, und konnten sich im Reichstag oder in den Landtagen legal betätigen, was durch die reine Persönlichkeitswahl gewährleistet wurde.

Traten sie jedoch außerhalb des Reichtags auf, war dies ein großes juristisches Risiko.

In manchen Städten und Orten kam es zur Einführung des sogenannten „kleinen Belagerungszustands“. So war es nach Paragraph 28 des Sozialistengesetzes möglich, „Agitatoren“ auszuweisen, was vor allem in sozialistischen Hochburgen wie Berlin, Frankfurt/Main, Leipzig und Hamburg erfolgte.

Mit dem Sozialistengesetz wurden die Sozialdemokraten als Feinde des Reiches bekämpft, was das Integrieren der Arbeiter in den Staat deutlich erschwerte.

Sogar am Arbeitsplatz wurden Sozialdemokraten verfolgt. Allerdings brachten die Verfolgungen auch eine Welle an Solidarität mit sich.

So konnte die SAP bei den Reichstagswahlen sogar einen Stimmenzuwachs verbuchen.

Außerdem kam es zur Gründung von Tarnorganisationen wie Naturfreundegruppen oder Arbeitersportvereinen, unter deren Deckmantel die Sozialisten ihre Arbeit fortsetzten.

Bismarck führt Sozialgesetze ein

Bismarck musste erkennen, dass es ihm mit seinen Repressionen nicht gelang, die Sozialdemokratie nachhaltig zu zerschlagen.

Außerdem hatten viele Arbeiter mittlerweile kein Vertrauen mehr in den Staat und fühlten sich von ihm nicht vertreten.

Daher beschloss der Reichskanzler, der seit 1880 auch Handelsminister war, die einfachen Bürger näher an den Staat zu binden.

Bismarck wollte selbst die Initiative ergreifen, indem er die Lage der Arbeiter verbesserte, um sie auf diese Weise für den Staat zu gewinnen.

Gleichzeitig hoffte der Reichskanzler darauf, dass sich die einfachen Bürger von den sozialistischen Parteien abwandten.

Basierend auf diesem Kalkül führte Bismarck 1883 die neue Krankenversicherung ein.

1884 schloss sich die Unfallversicherung an.

Beide Gesetze dienten tatsächlich dem Wohl der Arbeiter.

Dennoch ging Bismarcks Plan nicht auf, da die Arbeiter der Sozialdemokratie nicht den Rücken kehrten.

1889 setzte Bismarck auch die staatliche Rentenversicherung durch, aber die meisten Wähler sahen dies als weiteres Täuschungsmanöver an.

Allerdings hatte Otto von Bismarck trotz aller Mängel mit der Sozialgesetzgebung den Grundstein für einen modernen Sozialstaat gelegt.

Ende des Sozialistengesetzes

Im Laufe der Jahre hatte die Sozialdemokratie auch international immer mehr an Bedeutung gewonnen.

So war zum Beispiel 1889 in Paris die Sozialistische Internationale gegründet worden, der Delegierte aus zwanzig Ländern, darunter 85 aus Deutschland, angehörten.

Auch im Deutschen Reich wuchs der Einfluss der SAP, sodass das Sozialistengesetz auf Dauer politisch nicht mehr durchsetzbar war.

So hatte Bismarck 1888 den Versuch unternommen, Sozialdemokraten aus Deutschland auszubürgern. Seine entsprechende Gesetzesvorlage wurde jedoch abgelehnt.

Anfang Januar 1890 plante Bismarck eine weitere Verschärfung des Sozialistengesetzes, was die Nationalliberalen jedoch nicht mittragen wollten.

Außerdem hatte es an der Spitze des Kaiserreiches einen Wechsel gegeben. Anstelle des 1888 verstorbenen Wilhelm I. regierte nun dessen Enkel Wilhelm II. (1859-1941), der dem Eisernen Kanzler alles andere als wohlgesonnen war.

Der neue Kaiser lehnte eine weitere Verschärfung des Sozialistengesetzes ab, weil er eine politische Krise befürchtete.

Am 24. Januar kam es zur Konfrontation zwischen Bismarck und Wilhelm II.

Einen Tag später wurde die Fortsetzung des Sozialistengesetzes vom Reichstag abgelehnt.

Bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 gewann die SAP neuerlich viele Stimmen hinzu.

Bismarcks Entlassung und Gründung der SPD

Am 15. März 1890 verlor Otto von Bismarck endgültig die Unterstützung des Kaisers und wurde aus seinem Amt als Reichskanzler entlassen.

Dies bedeutete das endgültige Aus für das Sozialistengesetz, weil Wilhelm II. erst einmal den Ausgleich mit der Arbeiterbewegung suchte.

Die SAP gründete sich neu und wurde zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die zur mitgliederstärksten Partei des Staates avancierte.

So konnte die SPD bei den Reichtagswahlen 1893 mit 23,3 Prozent so viele Stimmen wie noch nie zuvor für sich gewinnen, sodass die Sozialdemokratie letztlich gestärkt aus dem Konflikt mit Bismarck hervorging.

Allerdings versuchten auch Bismarcks Nachfolger immer wieder neue Sozialistengesetze, wie zum Beispiel das „kleine Sozialistengesetz“, auf den Weg zu bringen, was jedoch jedes Mal scheiterte.

Erst im August 1914 wurde angesichts des Ersten Weltkrieges die Isolierung der Sozialdemokraten von Kaiser Wilhelm II. aufgegeben, sodass die SPD geschlossen für die Kriegskredite stimmte und die Burgfriedenspolitik eingeleitet wurde.