Preußischer Verfassungskonflikt um die Heeresreform 1859–1866

Heereskonflikt
Otto von Bismarck, 1866 – Bild: Stocksnapper / Shutterstock.com

Durch den preußischen Verfassungskonflikt stieg Otto von Bismarck 1862 zum Ministerpräsidenten auf.

Er löste die politische Krise schließlich mit der Lückentheorie.

Preußischer Verfassungskonflikt

Der preußische Verfassungskonflikt wurde zwischen 1859 und 1866 ausgetragen. Er war auch als preußischer Heereskonflikt oder Budgetkonflikt bekannt.

Kontrahenten dieser politischen Auseinandersetzung waren der preußische König Wilhelm I. (1797-1888) und das preußische Abgeordnetenhaus, das von den Liberalen dominiert wurde.

Dabei ging es um die Reform des preußischen Heeres sowie das Aufteilen der Macht zwischen dem Parlament und dem König.

Vorgeschichte des Heereskonflikts

Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 bestand Deutschland aus einem lockeren Staatenbund, dessen stärkste Vertreter Preußen und Österreich waren. Beide rangen um die Vorherrschaft im Land.

Im Jahr 1858 übernahm Wilhelm I. in Preußen die Regierungsgeschäfte.

Von ihm wurden liberale Minister in das preußische Kabinett berufen, was in dieser Zeit in Preußen noch ungewöhnlich war.

Weiterhin plante Wilhelm eine Reorganisation der Armee.

So waren in Preußen im Unterschied zu den anderen europäischen Großmächten deutlich weniger Wehrpflichtige vorhanden.

Um diese zahlenmäßige Unterlegenheit auszugleichen, sollte eine Heeresreform stattfinden.

Wilhelm hoffte, durch die Reform eine bessere Ausbildung der Soldaten sowie mehr Wehrgerechtigkeit erreichen zu können.

Darüber hinaus sollte auch seine eigene Position auf diese Weise gesichert werden.

Der Konflikt beginnt

Im Jahr 1860 legten Wilhelm I. und sein Kriegsminister General Albrecht Graf von Roon (1803-1879) ihre Planungen für die Reorganisation des preußischen Heeres vor.

Noch immer besaß das Heer eine Stärke von 150.000 Soldaten wie im Jahr 1815. Allerdings lebten in Preußen mittlerweile beinahe doppelt so viele Menschen.

Nach den königlichen Planungen sollten anstelle der bislang üblichen 40.000 Rekruten 65.000 Mann eingezogen werden. Dies wäre ein Drittel aller Wehrpflichtigen gewesen.

Außerdem planten Wilhelm und von Roon eine Erhöhung der Anzahl der Regimenter auf 39 Infanterieregimenter sowie 10 Kavallerieregimenter.

Das Friedensheer hätte damit eine Stärke von insgesamt 200.000 Soldaten erreicht.

Der aktive Militärdienst von bisher zwei Jahren sollte auf drei Jahre ansteigen.

Für das Umsetzen der Heeresreform war die Zustimmung des preußischen Abgeordnetenhauses erforderlich, das Anteil am Budgetrecht und damit auch über den Militäretat hatte.

Die Abgeordneten wollten jedoch die Zwei-Jahres-Regelung behalten.

Auch das Geld spielte eine Rolle. Anstelle der veranschlagten 9 Millionen Taler plante das Abgeordnetenhaus nur zwei Millionen Taler für die Armee auszugeben.

Trotz allem wurde im ersten Jahr provisorisch ein Budget von 9 Millionen Talern genehmigt.

Der Streit eskaliert

Im Dezember 1861 stand die Neuwahl des Abgeordnetenhauses bevor. Es kam jedoch zur Spaltung der altliberalen Partei, aus der die Deutsche Fortschrittspartei (DFP) hervorging.

Die Angehörigen der DFP verlangten, die Wehrpflicht zu verkürzen und die noch vorhandene bürgerwehrartige Landwehr zu erhalten.

Außerdem forderten sie mehr Machtbefugnisse für die Abgeordneten.

Um Druck auszuüben, beantragten sie einen detaillierten Haushaltsentwurf.

Daraufhin trat das liberale Kabinett des Königs zurück, weil Wilhelm I. nicht nachgeben wollte.

Durch die Neuwahlen erhielt die Fortschrittspartei aber noch mehr Einfluss und erreichte im Abgeordnetenhaus eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

Der Ministerpräsident Adolf zu Hohenlohe-Ingelfingen (1797-1873) erhielt von den Abgeordneten einen neuen Etatentwurf.

In diesem wurde auf den vorher erhobenen Steuerzuschlag verzichtet, da das allgemeine Steueraufkommen durch eine Grundsteuererhöhung ohnehin gestiegen war.

Außerdem brachten die Abgeordneten einen Entwurf über ein Gesetz zur militärischen Dienstpflicht ein. Darin wurde gefordert, die Dienstpflicht auf zwei Jahre zu begrenzen.

Des Weiteren wollte die Fortschrittspartei sämtliche während der Heeresreform neu aufgestellten Regimenter wieder auflösen, was auf Wilhelms strikte Ablehnung stieß.

Kompromissvorschläge von Kriegminister von Roon wurden von beiden Seiten abgelehnt.

1862 eskalierte der Verfassungskonflikt, der in der preußischen Bevölkerung nur wenig Beachtung fand, als das Abgeordnetenhaus dem König finanzielle Mittel von 6 Millionen Talern für die Heeresreform verweigerte.

Durch die Haushaltsblockade sollte der Einfluss des Parlaments ausgeweitet werden. Um ihre Ziele zu erreichen, war die Fortschrittspartei sogar zu einer Verweigerung des kompletten Haushaltsetats bereit.

Wilhelm I. war darüber maßlos enttäuscht und plante im September 1862, zu Gunsten seines Sohnes Friedrich III., abzudanken.

Der Kronprinz galt als gemäßigter Liberaler und deutete einen Verzicht auf die Verlängerung des Wehrdienstes an. Auf Kosten seines Vaters war er jedoch nicht bereit, den Thron zu besteigen.

Bismarck tritt auf den Plan

Zum Retter des Königs wurde ausgerechnet Otto von Bismarck.

Minister von Roon rief Bismarck aus Frankreich per Telegramm nach Preußen zurück, um damit den Rücktritt des Königs zu verhindern, da er in dem erzkonservativen Diplomaten den geeigneten Mann zur Lösung der Krise sah.

Am 20. September kam Bismarck in Berlin an und traf sich zwei Tage später mit Wilhelm I., den er seiner unbedingten Loyalität versicherte. Als „kurbrandenburgischer Vasall“ wollte er seinem König beistehen.

Es gelang Bismarck, Wilhelm I. von sich zu überzeugen. Mit ihm fand der König endlich einen intelligenten Politiker, der für die Interessen der preußischen Krone eintrat.

Er übertrug dem Diplomaten am 23. September 1862 das Amt des preußischen Ministerpräsidenten sowie des Außenministers.

Bismarck galt jedoch im Parlament als Reaktionär. Sowohl Konservative als auch Liberale lehnten ihn ab und auch Kronprinz Friedrich sowie Königin Augusta standen ihm skeptisch gegenüber, da sie fürchteten, dass sich der Verfassungskonflikt durch Bismarck noch weiter verschärfen würde.

In der Tat stellte Otto von Bismarck, nachdem er das Amt des preußischen Ministerpräsidenten angetreten hatte, klar, auch ohne die Zustimmung des Abgeordnetenhauses die angestrebte Heeresreform umzusetzen, wenngleich er es zunächst mit Verhandlungen versuchte.

Schließlich berief er sich auf die sogenannte „Lückentheorie“.

Bismarck und die Lückentheorie

Nach der preußischen Verfassung von 1848 konnten Gesetze ausschließlich mit Einwilligung von Regierung, adligem Herrscherhaus und Parlament beschlossen werden.

Nach Ansicht von Bismarck enthielt die Verfassung aber keinerlei Regelungen dafür, wenn diese drei Machtfaktoren nicht imstande waren, eine Einigung untereinander zu erzielen.

Beträfen bestimmte Fragen die Existenz Preußens, könne sich die Regierung auf das Recht berufen, die notwendigen Ausgaben für eine Heeresreform selbst dann zu beschließen, wenn die beiden anderen Kammern ihre Zustimmung verweigerten.

Bismarck legte die fehlende Antwort darauf, wie ein Verfassungskonflikt zwischen dem König und dem Parlament zu entscheiden sei, als „Lücke in der Verfassung“ aus.

Mit dieser Lückentheorie gelang es Otto von Bismarck, das Parlament zu überlisten, indem er mehrere Jahre ohne dessen Zustimmung regierte.

Infolgedessen konnte die Heeresreform konsequent durchgesetzt werden.

Folgen von Bismarcks Handeln

Die Intellektuellen begegneten Bismarck mit einhelliger Ablehnung und empfanden sein Vorgehen als rücksichtslos.

Vor allem seine berühmte „Blut- und Eisenrede“, die Bismarck eigentlich als Bündnisangebot an die Liberalen und Nationalen gedacht hatte, stieß auf Ablehnung und Empörung.

Sogar seine Bemühungen, mit der DFP einen Kompromiss zu erzielen, fanden keine Anerkennung. Bismarck sah sich nun genötigt, zum Angriff auf die Liberalen überzugehen.

Es kam zu hunderten von Beleidigungsprozessen, die der neue preußische Ministerpräsident führte.

Die meisten davon gewann er und seine Gegner mussten Bußgelder zahlen. Diese fielen jedoch sehr gering aus und umfassten oft lediglich 10 Taler.

So vertraten die Richter die Ansicht, dass die Polemik gegen Bismarck durchaus gerechtfertigt sei, weil er in der Tat ein Unrecht begangen habe.

Auch Beleidigungen des preußischen Ministerpräsidenten in der Presse waren keine Seltenheit.

Nach einem Vorbild aus Frankreich kam es daraufhin zu einem Erlass gegen die betroffenen Zeitungen.

So war es der Regierung nun möglich, jede Zeitung zu verbieten, die durch ihre Veröffentlichungen die öffentliche Wohlfahrt aufs Spiel setzte.

Es dauerte nicht lange, bis die Presse ihre Regierungskritik beendete.

Bismarck setzt die Heeresreform durch

Da die Liberalen seinen Militärhaushalt ablehnten, führte Otto von Bismarck die Regierungsgeschäfte nun ohne Budget. Die Reform konnte er dennoch umsetzen.

Außerdem gelang es ihm, mit seiner Außenpolitik von dem Verfassungskonflikt abzulenken.

Zahlreiche Abgeordnete betrachteten Bismarcks Vorgehen allerdings als Rechtsbruch.

Aus der bisherigen Devise „Recht geht vor Macht“ wurde nach Ansicht des liberalen Parlamentariers Maximilian von Schwerin-Putzar (1804-1872) das Motto „Macht geht vor Recht“.

Sogar der Thronfolger äußerte öffentliche Kritik am preußischen Ministerpräsidenten.

Doch Bismarck überstand diese Krise letztlich, obwohl die meisten sein Scheitern erwarteten.

Hohe liberale Beamte bekämpfte er u. a. mit Entlassungen.

Im Jahr 1865 forderte Bismarck den liberalen Politiker Rudolf Virchow (1821-1902), der dem Abgeordnetenhaus angehörte, zum Duell heraus. Virchow lehnte jedoch ab.

Verfahrene Situation bis 1866

Bis ins Jahr 1866 gelang es nicht, den preußischen Verfassungskonflikt zu lösen, sodass in Preußen eine verfahrene politische Situation herrschte.

Um das Parlament zu zermürben, berief es Bismarck oft für längere Zeit nicht ein.

Am 9. Mai 1866 wurde das Parlament wieder einmal aufgelöst.

Bismarck trug sich sogar zeitweilig mit dem Gedanken, die Verfassung und das Wahlrecht abzuschaffen.

Er entschied sich trotz konservativer Forderungen letztlich jedoch dagegen, weil sich dadurch weder Ordnung noch Stabilität erreichen ließen.

Stattdessen konzentrierte sich der preußische Ministerpräsident auf die Außenpolitik und führte 1864 den Deutsch-Dänischen Krieg und 1866 den Deutschen Krieg.

Lösung des Verfassungskonfliktes

Nach dem eindeutigen preußischen Sieg im Deutschen Krieg im Sommer 1866, der Preußen die Vorherrschaft in Deutschland sicherte, bot Otto von Bismarck den Liberalen Versöhnung an.

Im Rahmen der Indemnitätsvorlage ergab sich die Möglichkeit, die Haushalte der letzten Jahre im Nachhinein zu legalisieren.

Um den Liberalen entgegenzukommen, lockte Bismarck sie mit der Option eines deutschen Nationalstaates.

Am 3. September 1866 erfolgte die Abstimmung über die Indemnitätsvorlage. 230 Abgeordnete stimmten mit Ja und nur 30 mit Nein.

Durch die Annahme der Vorlage konnte der preußische Verfassungskonflikt um die Heeresreform endlich beendet werden.

Allerdings ergaben sich daraus politische Folgen. So kam es zur Abspaltung der Nationalliberalen Partei (NLP) von der Deutschen Fortschrittspartei.

Von dieser neuen Partei erhielt Bismarck nun Unterstützung.

Die DFP stand dagegen nach wie vor in erbitterter Opposition zum preußischen Ministerpräsidenten.

Die Spaltung des Liberalismus war für Bismarck durchaus von Nutzen. So hatten bei der letzten Landtagswahl am 3. Juli 1866 die Konservativen einen großen Erfolg eingefahren und die DFP als stärkste Fraktion abgelöst.

Am Ende ging Bismarck gestärkt aus dem preußischen Verfassungskonflikt hervor. Er konnte nun in Ruhe seine Politik verfolgen und die Reichsgründung von 1871 anstreben.